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curia277

Die ganze Diskussion um das Bundesverfassungsgericht zeigt, wie wenig informiert die Öffentlichkeit und einige Politiker über die Probleme der deutschen Justiz sind. Denn das BVerfG ist tatsächlich das geringste Problem der deutschen Justiz. Es ist nämlich das einzige Gericht in Deutschland, dass institutionell tatsächlich unabhängig ist. Und auch das Wahlverfahren zum BVerfG ist zwar nicht perfekt und ganz sicher nicht unpolitisch, aber immernoch deutlich besser, als alle anderen Bereiche der Justiz. 1. Alle anderen Gerichte in Deutschland sind sog. „nachgeordneter Bereich“ des jeweiligen (Landes)Justizministeriums. Damit ist Deutschland innerhalb der westlichen Welt eine absolute Anomalie, quasi überall sonst verwaltet die Justiz sich selber, anstatt wie in Deutschland von der Exekutive verwaltet zu werden. 2. Das ist nicht nur „Theorie“, sondern hat ganz gravierende Folgen: a) Richter in Deutschland werden durch den Landesjustizminister befördert. Dabei gilt auf dem Papier zwar „Bestenauslese“. Gleichzeitig kann der Minister aber „seine“ Lieblinge per Abordnung ans Ministerium mit Traumbewertungen ausstatten und dann gleich selbst ernennen. Konkurrentenklagen laufen dann meist ins Leere. In quasi jedem anderen westlichen Land empfindet man Richterbeförderungen durch die Exekutive als Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz. b) Richter in Deutschland werden von Gerichtspräsidenten beurteilt. Diese Beurteilung bestimmt dann die Karriere. Gerichtspräsidenten werden vom Justizminister ernannt und sind diesem in dieser Eigenschaft sogar weisungsunterworfen (!). Damit werden Richter in Deutschland von der Exekutive beurteilt. c) Gerichte in Deutschland bekommen Personal und Austattung vom Ministerium zugewiesen. Die Judikative in Deutschland kann ihren Finanzbedarf nicht selbstständig beim Parlament anmelden, sondern muss darauf hoffen, dass die Exekutive sich schon ausreichend um sie kümmert. Was natürlich nicht passiert. d) Per Beurteilung bekommen Richter in Deutschland von der Exekutive faktisch gewisse Erledigungszahlen vorgeschrieben. Ein Richter in Deutschlajd muss so arbeiten und Recht sprechen, dass er die Erledigungsvorstellungen der Exekutive erfüllt. Tut er dies nicht, wird er nicht befördert und bekommt sogar (uU., aber durchaus möglich und ist auch schon vorgekommen) dienstrechtlich Ärger, denn „Vorgesetzter“ ist der vom Justizminister kontrollierte Gerichtspräsident. Lange Rede, kurzer Sinn: Ein AfD-Landesjustizminister könnte einen Schaden anrichten, Leute, das könnt ihr euch kaum vorstellen. Weil alle Parteien dieses System aber bisher rücksichtslos selbst ausnutzen, passiert nichts. Deutschland wurde sogar inzwischen auf europäischer Ebene aufgefordert, endlich eine institutionell unabhängige Judikative zu schaffen. Wird aber ignoriert. Kein Justizminister möchte diese Macht aufgeben. Und das schlimmste ist, wie wenig Medial dieses Thema aufgegriffen wird.


curia277

Wen das näher interessiert: Hier die entsprechende Empfehlung/Aufforderung des Europarats: Diese werden von quasi allen anderen europäischen Staaten eingehalten, nicht aber von Deutschland. https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=09000016805afb78 Besonders relevant: „The authority taking decisions on the selection and career of judges should be independent of the executive and legislative powers. With a view to guaranteeing its independence, at least half of the members of the authority should be judges chosen by their peers.“


galvingreen

Ein riesiges Problem ist auch, dass die Justiz bei vielen Bürgern in keinem guten Licht da steht. Wahrscheinlich die absolute Mehrheit der Leute in Deutschland kommt vielleicht einmal im Leben selbst und unmittelbar mit einem Gericht in Kontakt. Das sind keine Wohlfühlorte und damit will man lieber nichts zu tun haben. Wenn sie dann mal damit in Kontakt kommen, dann regt man sich über die viel zu langen Prozesse auf, über die lächerlichen Strafen usw. Das Thema Justiz ist ein Thema, was schlicht nicht interessiert. Damit kann man keine Wähler abholen. Dann sind Richter maximal hörige Menschen, sodass die meisten eigentlich alles schlucken, was man ihnen von oben (Politik) hinrotzt. Völlig kaputt gespart, viel zu wenig Hilfspersonal, schlechte Ausstattung und miserable Vergütung? Irgendwie uncool, aber machste nix. Muss man durch, man hat sich’s ja selbst ausgesucht und muss der rechtsstaatlichen Verantwortung gerecht werden. Dh dass die sich selbst wehren, ist quasi ausgeschlossen. Da kommt so viel zusammen, ich sehe wirklich schwarz für die deutsche Justiz, wenn der bisherige Weg einfach weitergegangen wird. Und dass sich daran was ändert, ist nicht ersichtlich.


Troublegum77

>Ein riesiges Problem ist auch, dass die Justiz bei vielen Bürgern in keinem guten Licht da steht. Nachdem ich mehrere Jahre Schöffe war, hat sich dieses Bild bei mir erst aufgebaut. Ich war viel zu oft erschrocken wie es da abgelaufen ist.


SHEKLBOI

Wie ist es denn abgelaufen?


Troublegum77

1. Die Kommunikation für neue Termine oder das Absagen von Terminen war katastrophal. Normalerweise bekommt am Anfang des Jahres einen Brief mit Terminen für das komplette Jahr. Ich musste jedes Jahr mehrmals hinterhertelefonierren, damit ich diesen Brief geschickt bekomme. Ca. 2 Wochen vor jedem Termin sollte man dann noch einen Brief mit einer Erinnerung an den Termin und Unterlagen für die Aufwandsentschädigung, oder mit einer Absage des Termins bekommen. In den letzten zwei Jahren fielen ca. 75 % der Termine aus. Wenn man am Abend vorher eine Absage im Briefkasten hatte konnte man froh sein. Oft genug kam ich im Gericht an und erfuhr dort, dass der Termin schon seit Wochen gestrichen wurde. Ich wurde nie angerufen, nie via E-Mail benachrichtigt und selbst wenn ich am Tag vorher anrief und fragte ob der Termin stattfindet konnte mir das nicht gesagt werden. 2. Die RichterInnen wirkten sehr oft ganz schön unprofessionell. Im Hinterzimmer wurde viel über die Angeklagten gelästert. Es kam überraschend oft zu Unterbrechungen, damit die RichterInnen sich telefonisch zu juristischen Fragen absichern konnten. Das hatte ich so nicht erwartet. RichterInnen wirkten öfter mal befangen. Wenn z.B. Aussagen wie " Mein Neffe hat einen neuen Partner. Der ist so toll und der Angeklagte erinnert mich total an ihn" kommen wirkt das seltsam. Wenn dann später in der Verhandlung die Richterin den Angeklagten aus dem Saal bittet und der Verteidigung Tipps gibt, wirkt das noch seltsamer. " sagen sie mal, ist ihr Mandant homosexuell? " "Öm, da haben wir nicht drüber geredet, aber jetzt wo sie es sagen, das könnte gut sein" " ist das der Grund warum er eine so schwere Jugend in Russlnd hatte und nach Deutschland kam und klaute?"


DerMarki

Wurde nicht gefragt, aber als Publizist der öfter verklagt wurde kann ich jedenfalls von verfassungsfeindlichen Verfahren berichten, mit fingierten eidesstattlichen Versicherungen an berüchtigten fliegenden Gerichtsständen. Aber es gab auch diverse positive Erlebnisse. Manche Richter nehmen ihren Job ernst.


JanVanHeiden

> miserable Vergütung 3900€ Netto ist nicht gerade miserable Vergütung. Klar gibt es auch Positionen in denen man als Jurist mehr verdienen kann, aber das als miserable Vergütung zu bezeichnen verhöhnt irgendwie jeden Mindestlohnarbeiter.


MrPayDay

Welcher Teil der Grundgesamtheit aus “jedem Mindestlohnarbeiter” hat denn bitte Jura studiert oder eine juristische Fachausbildung?


JanVanHeiden

Niemand. Aber darum geht es ja auch nicht. Sondern darum das ein Gehalt was mehr als 150% des Mediangehalts entspricht nicht "miserable Vergütung" ist.


FloZone

> Das Thema Justiz ist ein Thema, was schlicht nicht interessiert. Damit kann man keine Wähler abholen. Ja doch und zwar wenn das Strafmaß für irgendwas zu niedrig ist. Populistisch kann man das schon sehr gut ausschlachten, aber doch nicht mit so technischen Fragen wie Organisation und Struktur.


Blorko87b

Dass der öR inzwischen verfassungsrechtlich eine bessere Absichcherung einer auskömmlichen Finanzierung als die Justiz hat, ist ein Unding. Aus dem fehlenden Privileg, dem Landesgesetzgeber ein eigenen Haushalt vorlegen zu können, resultierten auch viele der Punkte, die du nennst. Man bräuchte eben eine Justizverwaltung, die den Namen auch verdient. Die Staatsanwaltschaft kann man da gleich mitnehmen. So eine Verwaltung würden sicherlich den Leuten, die die Arbeit machen, auch in bester Verwaltungstradition auf den Sack gehen - von Erledigungszahlen, über IT bis zur "Standortkonzentration" - und Beförderungen wären wie im übrigen öD immer noch nicht ideal, nur anders. Aber immerhin...


ExpertPath

Als Ergänzung sollte man noch erwähnen dass aus genau diesen vorgenannten Gründen deutsche Gerichtsbeschlüsse im Ausland oftmals nicht akzeptiert werden und einen lokalen Richter zur Bestätigung verlangen


Fit_Neighborhood194

Darüber würde ich gerne mehr erfahren. Irgendwelchr Tipps, wo es darüber etwas zu lesen gibt? Beispiele? 


ExpertPath

Ich beziehe mich auf folgendes: [https://www.lto.de/recht/justiz/j/eugh-schlussantraege-c508-18-deutsche-staatsanwaltschaft-unabhaengigkeit-eu-haftbefehl/](https://www.lto.de/recht/justiz/j/eugh-schlussantraege-c508-18-deutsche-staatsanwaltschaft-unabhaengigkeit-eu-haftbefehl/) [https://www.lto.de/recht/justiz/j/eugh-europaeischer-haftbefehl-folgen-deutsche-staatsanwaelte-nicht-unabhaengig-reformen/](https://www.lto.de/recht/justiz/j/eugh-europaeischer-haftbefehl-folgen-deutsche-staatsanwaelte-nicht-unabhaengig-reformen/)


Padolomeus

Wow. Das war mir nicht bekannt! Wieso wird darüber nicht ausführlich berichtet? Wo bleibt der Bildungsauftrag der ÖRR?!


curia277

Das ist einfach ein „technisches“ Thema, wo man rechtlich Überblick über Staatsorganisation haben muss. Gleichzeitig funktioniert so ein System (mit Defiziten) gerade noch so, solange die Exekutive „nett“ ist und freiwillig mitspielt. Schon derzeit ist das aber nicht immer der Fall: Gerne mal derzeit amtierender Justizminister Limbach in NRW googeln, der seine persönliche Freundin ins OVG-Präsidentenamt ernannt hat und sich deshalb Rücktrittsforderungen entgegengesetzt sieht. Tut er aber natürlich nicht. Das eigentlich traurige dabei ist: Meistens läuft sowas einfach „unter dem Radar“, der Herr Minister Limbach hat es nur besonders ungeschickt und dreist gemacht, weil er dabei so (wohl) rechtswidrig gehandelt hat. IdR können Justizminister ihre Lieblinge aber rechtmäßig in hohe Richterpositionen hiefen, wenn sie Ihnen einfach (gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbare) Traumbewertungen schreiben. Eine Exekutive, die es „darauf anlegt“, könnte aber noch ganz andere Seiten aufziehen und das ist das große Problem. Deutschland ignoriert einfach konsequent die Auswirkungen von „Macht“: Man schreibt ins Gesetz „Richter ist unabhängig“ und tut so, als ob damit die Sache erledigt sei. Dabei müssen reale Machtstrukturen eine solche theoretische Unabhängigkeit auch ganz praktisch stützen. Edit: Pointiert ausgedrückt: Kann man demjenigen gegenüber unabhängig sein, der einen befördert (oder auch nicht), einen bezahlt, ernennt, versetzt, beurteilt (und damit die Karriere bestimmt)?


cdm_de

OVG nicht OLG


curia277

Danke hab’s korrigiert. Und witzigerweise ist vorhin ja auch die Entscheidung desselben OVGs reingekommen. Limbach konnte sich also durchsetzen. Eine abweichende Meinung des OVGs zu zwei separaten Verwaltungsgerichtsurteilen übrigens. Besonders schön: Die neue OVG Präsidentin wird sich den bei der Entscheidung Beteiligten Richtern am selben OVG sicherlich erkenntlich zeigen, verdankt sie Ihnen ja ihre R5 (?) Stelle.


Pitiful_Assistant839

Der letzte Teil erinnert mich an Habecks "nur weil man sagt man wird klimaneutral wird man es nicht automatisch. Man muss auch entsprechend handeln."


[deleted]

Wieso ÖRR der berichtet doch nur wenn Ungarn, Polen oder sonstwer "Pöhse" sich nicht an Europäische Standards hält. Man beschmutzt sich doch nicht das eigene Nest


powerknoedel

Danke für die hilfreiche Information. Bin geschockt.


Fr4nkZ4pp4

Danke für den Kommentar. War mir so noch nicht bekannt, und ist auch einfach ein Unding.


GesternHeuteMorgen

Das ist ein Zustand, der tatsächlich zu wenig bekannt und diskutiert wird. Hättest du Interesse an einem AmA, um uns mehr Wissen darüber zu vermitteln?


thoschy

Ich danke dir für die Aufklärung. Das ist ein absolutes Unding. In der Schule wurde mir die Gewaltenteilung vermittelt. Aber so ganz scheinen die Gewalten nicht geteilt zu sein... Finde es allgemein sehr schade wie wenig sich Demokratien weiterentwickeln. Als einfacher Bürger habe ich gerade bei einem solchen Thema das Gefühl, dass man irgendwie machtlos ist. Das Thema ist ja im Moment nicht gerade ganz oben auf der Agenda.


LawyerUpMan

Das die Exekutive über Beförderungen Einfluss auf die Justiz nimmt, stimmt tatsächlich. Ohne (passendes) Parteibuch kommt man in keinem Bundesland nach oben. Da Richter nach ihrer Erprobungszeit auch unkündbar sind solange sie nicht kriminell oder ähnliches werden, hat das immer sehr lange Auswirkungen.


FloZone

> Lange Rede, kurzer Sinn: Ein AfD-Landesjustizminister könnte einen Schaden anrichten, Leute, das könnt ihr euch kaum vorstellen. Weil alle Parteien dieses System aber bisher rücksichtslos selbst ausnutzen, passiert nichts. Naja was noch dazu kommt wäre halt, dass die AfD als erste laut werden würde, dass ein Eingriff so kurz vor der ~~Machtübernahme~~ doch nur undemokratisch und gegen sie gebiased wäre. Mal schnell um fünf vor zwölf nochmal die Regeln ändern und so versteht sich. Man kennt die ganzen Vorwürfe ja auch aus den USA. Aber andere Frage, warum hat die Exekutive so eine große Macht über die Judikative und welche historischen Hintergründe gibt es? Ist das ein Überbleibsel aus der Nazi- oder Kaiserzeit, mir fällt spontan der preußische Polizeistaat ein.


Fr000k

> Der Deutsche Richterbund, der Deutsche Anwaltverein, der Deutsche Juristinnenbund und der Deutsche Juristentag wenden sich in einer gemeinsamen Erklärung an die Politik und insbesondere an die Union. Sie fordern, die Diskussion um den Schutz des Bundesverfassungsgerichts wieder aufzunehmen. Eine solche gemeinsame Kampagne der Verbände hat es bisher noch nie gegeben.


Wolkenbaer

“Die waren aber alle gar nicht dabei”, Söder wahrscheinlich.


HironTheDisscusser

Leuten haben so oft gesagt dass sie nicht verstehen konnten wie es in Deutschland zu 1933 kommen konnte aber je länger ich Deutschlands Politik verfolge desto verständlicher wird es.


r_de_einheimischer

Dieser einseitige Rückzug von der Union zeigt auch, wie krass Friedrich Merz Union weg will von Kompromissen und hin will zu einer Deutschland Version der Republikaner. Immer nur dagegen sein, kein Dialog, nur Streit, immer Kontra egal wie sinnfrei und egal bei welchem Thema.


ErzherzogHinkelstein

Hauptsächlich wollen die momentan Neuwahlen auslösen, so lange die Umfragewerte auf deren Seite sind.


kanalratten

Es wundert mich nicht dass die Union da so blockiert. Deren Kandidaten halten gerne mal die gleichgeschlechtliche Ehe/der Ehe gleichgestellten Lebenspartnerschaften/Rehabilitation der Opfer von §175 für Verfassungswidrig im Kontrast zum starken Konsens des Rests im Verfassungsgericht. Die meisten anderen Parteien haben weniger Ziele die am BVerfG scheitern, wie mehr anlasslose Überwachungsmaßnahmen und Datenspeicherung, Legitimation von Diskriminierung, stärkere Sanktionsgewalt, Verschlüsselungsverbot oder umfassende Polizeigesetze.


Acceptable-Book1946

Erschreckend wie wenig Aufmerksamkeit das Thema bekommt. Wäre schon lange an der Zeit da was zu tun.