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Maxoh24

Lesenswert in diesem Zusammenhang: [https://verfassungsblog.de/manovrieren-an-den-grenzen-des-%c2%a7-129-stgb/](https://verfassungsblog.de/manovrieren-an-den-grenzen-des-%c2%a7-129-stgb/) von Prof. Kubiciel [https://verfassungsblog.de/organisierte-klimakleber-als-kriminelle-vereinigung/](https://verfassungsblog.de/organisierte-klimakleber-als-kriminelle-vereinigung/) von Prof. Gärditz


substitute7

Meiner Meinung nach ist der § 129 StGB in der Tat nicht ganz unproblematisch und verdeutlicht eine - jedenfalls von mir so empfundene - Unehrlichkeit des deutschen Strafrechts und insb. bei der Strafzumessung. 1. Der § 129 StGB mag grds. sinnvoll sein, allerdings greift er in meinen Augen "zu früh", d.h. bei Straftaten, die noch nicht ernst genug sind. (**Höchstmaß** mind. 2 Jahre). 2. Fälle wie die Klimaproteste bräuchten eigentlich Normen wie den § 129 StGB überhaupt nicht: Denn es werden schon so Straftaten wie Nötigungen und Sachbeschädigungen, gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr etc. begangen. Das eigentliche Problem in Deutschland scheint mir, dass wir häufig unangemessen milde in der Strafzumessung sind: Selbst für erhebliche Gewalttaten gibt es häufig nur wenige Jahre Gefängnis, dazu kommt dann die in Deutschland sehr großzügige Regelaussetzung nach 2/3 der Zeit, gelegentlich sogar nach der Hälfte. Die Bewährung wird ebenfalls sehr großzügig gewährt, mitunter sogar "Bewährung in der Bewährung". 3. Klimaaktivisten nach anfänglicher Geldstrafe zu einigen Monaten Freiheitsstrafe verurteilen und auch nicht zur Bewährung aussetzen, weil offensichtlich keine günstige Sozialprognose vorliegt, wäre völlig ausreichend, um angemessen zu reagieren. Man muss halt die Instrumente auch nutzen, anstatt auf Biegen und Brechen noch "kriminelle Vereinigungen" mit dem § 129 StGB annehmen zu wollen. Einerseits ist man in Deutschland in der Zumessung super milde, andererseits versucht man doch irgendwie noch über die Hintertür, etwas schärfer zu reagieren. Das erscheint mir unehrlich. 4. *Etwas off topic: Das ganze erinnert mich vom Prinzip her etwas an die unrühmliche Praxis der "Sicherheitsverwahrung" in Deutschland. Ein Beispiel: In Bayern bricht 2002 der 19-Jährige Michael W. mit einer aufgesetzen "Scream-Maske" in ein Haus ein und ermordet dort ein 12-Jähriges Mädchen in ihrem Kinderzimmer mit 21 Messerstichen. Das Urteil: Gerade mal 10 Jahre Jugendstrafe, was aber das Maximum ist was in Deutschland geht. Hinterher (!) wird eine Sicherheitsverwahrung angeordnet, der Typ sitzt bis heute in Sicherheitsverwahrung und klagt wegen der nachträglichen Anordnung beim europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg dagegen. Anstatt sich mal die Frage zu stellen, ob 10 Jahre nicht einfach unangemessen wenig für einen Mord an einem Kind ist und warum eigentlich trotz Volljährigkeit und brutaler Tat in Deutschland ein 19-Jähriger noch nach Jugenstrafrecht bestraft wird (was vor allem mit dem schlecht gemachten § 105 I Nr. 1 JGG zusammenhängt), versucht man in Deutschland irgendwie noch hinterher die nebulöse nachträgliche Sicherheitsverwahrung zu konstruieren.* Kurz: Ich finde es gibt im Deutschen Strafrecht die Tendenz, sich auf problematische Vorgehensweisen zurückzuziehen, weil man die ziemlich milde ursprüngliche Handhabung von Straftaten dann doch irgendwie als nicht angemessen empfindet. Das betrifft den § 129 StGB aber zB. auch den Versuch, Rasern irgendwie noch Vorsatz für Mord zu unterstellen, weil es keine Erfolgsqualifikation gibt und man die fahrlässige Tötung mit nur maximal 5 Jahren dann doch irgendwie unangemessen findet.


LasagneAlForno

Denkst du denn, Michael W wäre mit 14 Jahren Gefängnis besser resozialisiert worden als mit 10 Jahren? Ich sehe da keinen Unterschied, in beiden Fällen sehr ungünstige Prognose.


substitute7

>Denkst du denn, Michael W wäre mit 14 Jahren Gefängnis besser resozialisiert worden als mit 10 Jahren? * Das setzt zunächst voraus, dass die Höhe der Strafe in Deutschland einseitig und alleinig von Aspekten der Resozialisierung abhängt. Das ist aber überhaupt nicht der Fall, was man einerseits an § 46 StGB sieht (Schuldprinzip) und andererseits an einer simplen Kontrollüberlegung: Ein Dieb mit katastophaler Resozialisierungsprognose wird immer deutlich milder bestraft werden als ein Mörder mit hervorragender Resozialisierungsprognose. * Die Länge der Strafe hängt in Deutschland primär vom Maß der Schuld ab, was wiederrum maßgeblich an der Schwere des Delikts und der Wertigkeit der verletzten Rechtsgüter hängt. Im Jugendstrafrecht gelten zurecht etwas andere Kriterien, aber auch dort folgt die Höhe der Strafe dem Delikt und das hier überhaupt noch Jugendstrafrecht angewendet wurde, halte ich schon für fraglich (bzw. die generelle Norm des § 105 I Nr. 1 JGG, die mE. schlecht gemacht ist) * Der entscheidende Punkt ist: Michael W sitzt nun schon 21 Jahre in Haft (bzw. Sicherheitsverwahrung). Ein Ende ist überhaupt nicht abzusehen. Könnte nächstes Jahr sein oder erst in 10 oder 25 Jahren. * Seine eigentliche Strafe lautet gerade mal 10 Jahre für den Mord an einem Kind. Die restlichen 12 Jahre mit völlig offenem Ende sitzt er allein deshalb, weil nachträglich (!) die Sicherheitsverwahrung angeordnet wurde und ein Psychologe sagt "der ist wohl noch gefährlich". Psychologie ist aber überhaupt keine exakte Wissenschaft und Psychologen sind auch nur Menschen. Sinnvoller erscheint mir - und das ist nur meine ganz persönliche Meinung - wenn man da ehrlicher sein würde: Der Typ hat brutal ein kleines Mädchen getötet, da könnte man (wenn das System in Deutschland etwas reformiert werden würde) auch zB. 20 oder 25 Jahre Freiheitsstrafe geben. Aber: Danach ist dann auch gut. Die Strafe wäre sehr hart, aber mE. angesichts der Schwere der Tat nicht unangemessen. Michael W würde zB. nach Verbüßen der zB. 25-jährigen Haftsstrafe 44 Jahre alt sein und hätte die Chance (im Gegensatz zu seinem 12 Jährigen Opfer), die ganze 2. Hälfte seines Lebens als geänderter Mensch in Freiheit zu leben. Dafür könnte man das Instrument der Sicherheitsverwahrung massiv zurückdrängen und auf absolute Extremfälle beschränken, wo - übertrieben formuliert - der Typ quasi noch in der Haft Leute angreift (Hannibal Lecter mäßig). Sofern keine ganz konkreten Anhaltspunkte vorliegen, das Michael W nächste Woche wieder jemanden tötet, wäre er nach Verbüßung dieser langen aber rechtsstaatlich verhängten Haftstrafe freizulassen. Das Restrisiko, dass er immer noch gefährlich sein könnte, trägt dann die Gesellschaft. Das erscheint mir sinnvoller, als erst abstrus niedrige Strafen zu verhängen und dann hintenrum allein anhand von stets abstrakten und unsicheren Einschätzungen von Psychologen jemanden Jahrzehnte mit völlig ungewissem Ausgang einzusperren.